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Wie nah muss man gehen, um wirklich zu sehen?

  • Autorenbild: Lars-Henrik Roth
    Lars-Henrik Roth
  • 20. Dez.
  • 8 Min. Lesezeit

Über Verantwortung, Nähe und einen anderen Weg der Naturfotografie von Lars-Henrik Roth

Grafik, die Menschenmenge mit erhobenen Smartphones vor idyllischer Naturkulisse eines Wasserfalles zeigt. Am Himmel kreuzen Passagierflugzeuge.

Es gibt Landschaften, die man zu kennen glaubt, lange bevor man je einen Fuß in sie gesetzt hat. Fanal auf Madeira. Die Trolltunga in Norwegen. Der geschwungene Sandstein des Antelope Canyon, die steinernen Terrassen von Machu Picchu. Die skelettartigen Akazien im namibischen Deadvlei - oder der Mount Fuji, wie er hinter einem banalen Supermarkt in Fujikawaguchiko thront. Ein Blick, der inzwischen hinter einer schwarzen Wand verborgen werden muss, um der Massen Herr zu werden.

Ihre Bilder sind allgegenwärtig, so oft reproduziert, dass sie sich beinahe wie eigene Erinnerungen anfühlen. Man weiß, wie der Blick aussieht, wo man stehen muss, welche Perspektive erwartet wird. Der Ort scheint vertraut, obwohl man ihn nie erlebt hat. Wenn man schließlich dort ankommt, passiert etwas Eigenartiges. Man steht nicht mehr wegen der Landschaft an diesem Ort, sondern wegen eines Bildes, das längst unabhängig von ihm existiert. Der Blick sucht nicht das Unbekannte, sondern bestätigt das Erwartete. Wege sind festgetreten - nicht von Zufall, sondern von Wiederholung. Der Boden erzählt nicht mehr von Wetter oder Jahreszeiten, sondern von der schieren Anzahl der Schritte.

Über Overtourism wird viel gesprochen. Über zerstörte Vegetation, abgesperrte Bereiche, Lärm an Orten, die nie für Menschenmengen gedacht waren. Diese Folgen sind sichtbar und gut dokumentiert. Was mich jedoch zunehmend beschäftigt, ist ein Aspekt, der seltener thematisiert wird: die ökologische Bilanz des Weges selbst. Das, was geschieht, lange bevor man den Spot erreicht.

Viele Naturfotografen reisen um die halbe Welt für ein einzelnes Bild. Sie planen sorgfältig, fliegen, wandern, warten auf ein bestimmtes Licht – und kehren wieder zurück. Die Begeisterung für die Natur ist dabei meist aufrichtig. Und doch begann sich für mich ein Unbehagen einzustellen. Nicht wegen der Orte. Sondern wegen der Methode, mit der wir ihnen begegnen.


Diese Spannung ließ sich nicht ignorieren. Sie war unbequem, aber sie war real. Und sie führte dazu, dass ich begann, meine eigene Arbeit infrage zu stellen.
Blick über die Felsenlandschaft des Ahrtals, am Horizont der Sonnenaufgang
Alpenglühen und atemberaubender Bergblick über dem Abgrund: Ein Sonnenuntergang in den Dolomiten oder den Pyrenäen? Falsch. Das ist der Lohn einer Wanderung nahe Altenahr im Ahrtal.

 

Die blinden Flecken der Ikonenjagd

Die Probleme an ikonischen Fotospots sind gut bekannt. Fanal musste mit kilometerlangen Absperrungen geschützt werden, weil die Vegetation dem ständigen Druck nicht mehr standhielt. An der Trolltunga müssen jedes Jahr hunderte Menschen gerettet werden, oft weil sie eine anspruchsvolle Tour unterschätzen, die sie nur für ein Bild antreten. Am Kjeragbolten entstehen Warteschlangen, die eher an ein Popkonzert erinnern als an einen Ort in der Natur.

Diese Entwicklungen machen eines deutlich: Die Natur hält die Art von Aufmerksamkeit, die wir ihr heute schenken, nicht aus.


Was jedoch erstaunlich selten angesprochen wird, ist der Preis, der bereits vor dem eigentlichen Erlebnis gezahlt wird. Ein Flug nach Madeira oder Norwegen verursacht häufig mehr CO₂, als zahlreiche lokale Fototouren in einem ganzen Jahr zusammen. Der ökologisch teuerste Teil vieler Naturaufnahmen liegt nicht im zertrampelten Moos oder im ausgetretenen Pfad, sondern im Start eines Flugzeugs.


Die Neuyetalsperre mit perfekter Uferspeigelung an einem frostigen Tag
Spiegelung perfekt, Wildnis unberührt: Ein Morgen am Lake Louise in Kanada? Falsch! Das ist die stille, frostige Schönheit der Neyetalsperre im Bergischen Land, 60 Minuten Fahrzeit von mir entfernt.

Je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde mir die innere Schieflage dieser Praxis. Wir sagen, wir lieben diese Orte. Doch die Art, wie wir sie erreichen, steht oft im Widerspruch zu diesem Anspruch. Diese Erkenntnis war keine moralische Anklage, sondern eine Frage, die sich nicht mehr verdrängen ließ: Kann man einen Ort wirklich wertschätzen, wenn man ihn nur unter Inkaufnahme erheblicher Schäden besucht?

 

Als mir ein Spot „starb“ - Burg Eltz als Wendepunkt

Manchmal braucht es keinen großen Einschnitt, sondern nur einen stillen Moment, um etwas zu verändern. Bei mir war es ein Morgen an der Burg Eltz.

Ich war früh dort. Nebel lag im Tal, das Licht war weich und zurückhaltend. Für eine kurze Zeit wirkte alles ruhig und stimmig. Ich stand allein auf dem Weg, die Kamera bereit, und hatte das Gefühl, dem Ort wirklich zu begegnen.


Dann kamen die ersten Touristenbusse. Noch während der Nebel sich auflöste, bildete sich eine Schlange. Viele der Ankommenden schienen weniger an der Landschaft interessiert als an dem einen Blickwinkel, den sie bereits kannten. Sie gingen an der Umgebung vorbei, in der sie standen, fixiert auf ein Bild, das sie reproduzieren wollten. Der Moment war verschwunden, bevor er für sie überhaupt begonnen hatte.


Ich hätte mich darüber ärgern können. Stattdessen stellte sich eine leise Ernüchterung ein. Nicht gegenüber den Menschen, sondern gegenüber der Art, wie Orte ihre Bedeutung verlieren können, ohne sichtbar zerstört zu sein. Ich hatte mein Bild längst gemacht. Aber mir wurde klar, dass etwas anderes verloren ging: die Stille, die Offenheit, die Möglichkeit, einen Ort ohne Erwartung zu erleben.


An diesem Morgen wurde mir bewusst, dass ein Spot nicht nur durch Übernutzung stirbt. Er stirbt auch, wenn er zur Pflichtübung wird.

Der Rheinbei Boppard im goldenen Morgenlicht. Schiffe fahren auf dem FLuss.
Schluchten, Schiffe, goldenes Licht: Eine Aufnahme aus den Three Gorges am Yangtze in China? Nein, das ist der Rhein bei Boppard, nur 90 Minuten entfernt.

 

Die Gedankenlosigkeit der modernen Naturbegeisterung

Viele Menschen reisen zu ikonischen Orten, weil sie Natur lieben. Sie schätzen Wälder, Berge, Licht. Dieser Wunsch ist ehrlich. Und dennoch wird der Weg dorthin oft nicht reflektiert.


Es entsteht ein Paradox: Menschen reisen aus Begeisterung für die Natur und verbrauchen sie dabei. Sie suchen das Besondere und wählen Wege, die genau dieses Besondere gefährden. Sie wollen Bilder als Erinnerung und hinterlassen Spuren, die bleiben.

Über hunderttausend Menschen stehen jedes Jahr auf der Trolltunga. Der Ort ist beeindruckend und weitläufig, aber nicht dafür gemacht, diese Form von Aufmerksamkeit dauerhaft zu tragen. Fanal ist über Jahrhunderte gewachsen. Innerhalb weniger Jahre hat der Tourismus dort Schäden verursacht, deren Heilung Generationen dauern wird.


Diese Beobachtungen führten bei mir nicht zu Resignation, sondern zu Unruhe. Zu einer Frage, die sich immer wieder stellte und nicht mehr ignorieren ließ: Was ist Naturfotografie wert, wenn sie das beschädigt, was sie zeigen will?


Diese Frage markierte keinen Endpunkt. Sie war der Ausgangspunkt für eine Suche nach einem anderen Weg.

Blick über die gefrorene Landschaft des Brackvenn in Belgien. Im Vordergrund ein gefrorener Moorsee. Es liegt viel Schnee.
Eisige Weite, endlose Wälder: Ein Wintertreck durch die finnische Tundra? Nein, das ist nur 80 Minuten entfernt im belgischen Hohen Venn.

 

Das Prinzip der Lokalität – eine ehrliche Alternative


Aus diesen Beobachtungen heraus begann sich ein Gedanke zu formen, zunächst leise, fast unscheinbar. Er war keine fertige Antwort, eher eine Verschiebung der Perspektive. Ich begann mich zu fragen, ob es nicht einen anderen Zugang zur Landschaft geben könnte – einen, der nicht auf Verzicht beruhte, sondern auf Ehrlichkeit.


Lokalität bedeutet für mich nicht, weniger zu sehen. Sie bedeutet, genauer hinzusehen. Sie bedeutet, die eigenen Grenzen anzuerkennen und sie nicht als Einschränkung, sondern als Rahmen zu begreifen. Nicht jede Landschaft muss erreichbar sein. Aber jede Landschaft, die man erreicht, verdient Aufmerksamkeit.


Konkret hat sich daraus für mich ein einfacher Maßstab entwickelt: ein Radius, der in etwa neunzig Minuten erreichbar ist. Keine Flüge für ein einzelnes Bild. Keine Fernreisen, um eine bekannte Perspektive zu reproduzieren. Keine Ikonenjagd. Nicht aus Dogmatismus, sondern aus Konsequenz. Dieser Radius ist kein Gesetz, sondern ein Kompass. Er zwingt mich, Entscheidungen zu treffen – und genau darin liegt seine kreative Kraft.


Schroff aufragende Felswände über einem schmalen Weg durch die Teufelsschlucht bei Irrel, Eifel.
Tief in den Slot Canyons von Utah: EIn Abenteuer, für das man um die halbe Welt fliegt? Nein, das ist nur eine spannende Wanderung durch die Teufelsschlucht in der Eifel gewesen.

Denn wenn Distanz keine Option mehr ist, verschiebt sich der Fokus. Ich fotografiere nicht mehr dort, wo es spektakulär sein soll, sondern dann, wenn Licht, Wetter und Stimmung zusammenkommen. Ich jage keinem Motiv hinterher, sondern halte Ausschau nach Momenten. Diese Veränderung hat meine Arbeit nicht eingeschränkt, sondern geöffnet. Verantwortung und Kreativität sind keine Gegensätze mehr, sondern bedingen einander.

 

Die kreative Kraft der Nähe


Wer lokal fotografiert, arbeitet unter anderen Bedingungen. Nicht mit der Sicherheit ikonischer Motive, sondern mit Orten, die sich erst im Gehen öffnen. Orte, die keine Versprechen machen, sondern Aufmerksamkeit verlangen.

Ein Beispiel dafür ist das Ahrtal rund um Altenahr. Wer dort unterwegs ist, sieht nicht nur Landschaft, sondern Geschichte. Verletzungen, die noch offen sind. Spuren von Wasser, Gewalt, Wiederaufbau. Und gleichzeitig diese fast irritierende Romantik der Felsen, die sich über dem Tal erheben. Stellen, an denen man fotografieren kann, als stünde man im Hochgebirge – schroff, lichtdurchzogen, archaisch. Nicht, weil sie spektakulär inszeniert sind, sondern weil sie es sind.

Hier entsteht Fotografie nicht trotz der Nähe, sondern wegen ihr. Man kommt wieder. Sieht dieselbe Kurve im Weg bei anderem Licht. Dieselbe Felsnase im Nebel, im Gegenlicht, im Winter. Nähe schafft Vertrautheit – und Vertrautheit schärft den Blick. Man beginnt zu sehen, was man früher übersehen hätte.

Blick in das herbstliche Ahrtal bei Mayschoß. Die Weinberge stehen in buntem Herbstlaub.
Das weltberühmte Douro-Tal in Portugal, wo steile Weinberge auf den Fluss blicken? Nein. Das ist die ebenso dramatische Kulturlandschaft nahe Mayschoß im Ahrtal.


Ein ähnlicher Moment war der Photohike zur Saffenburg. Kein weltbekannter Ort, keine Ikone. Und doch dieses eine Lichtfenster, dieses „Gate of Light“, das sich nur für Minuten öffnete. Kein Motiv, das man planen kann. Kein Bild, das man nachholen könnte. Es entstand, weil ich da war. Weil der Weg dorthin Teil des Sehens war. Weil Zeit, Ort und Aufmerksamkeit zusammenfielen.


Solche Orte lehren Geduld. Sie lehren, dass Fotografie nicht aus dem Wiederholen fremder Bilder entsteht, sondern aus dem Verweilen. Dass Landschaft Tiefe entwickelt, wenn man sie nicht konsumiert, sondern begleitet. Nähe zwingt zur Auseinandersetzung – und genau darin liegt ihre kreative Kraft.

 

Das Photohiking-Prinzip – ein Weg aus dem Dilemma


Aus dieser Haltung heraus hat sich für mich das Photohiking entwickelt. Es ist weniger eine Technik als eine Arbeitsweise, weniger ein Konzept als eine Konsequenz. Sein Kern ist einfach: Der Weg ist wichtiger als der Spot.


Wer geht, bevor er fotografiert, verändert seine Wahrnehmung. Der Blick richtet sich nicht sofort auf das Ziel, sondern auf das Dazwischen. Auf Veränderungen im Licht. Auf Geräusche. Auf Übergänge. Viele dieser Beobachtungen existieren nicht in Bildarchiven oder sozialen Netzwerken, weil sie nicht wiederholbar sind. Sie entstehen nur im Moment.


Photohiking führt zwangsläufig zu einer eigenen fotografischen Handschrift. Nicht, weil man sich bewusst von anderen abgrenzt, sondern weil man sich von Vorlagen löst. Die Bilder entstehen nicht aus ikonischen Orten, sondern aus erlebten Situationen. Aus Präsenz statt Erwartung.

Für mich ist Photohiking damit eine leise Alternative zu vielem, was laut geworden ist. Zu der Jagd nach Spots. Zu der Idee von Natur als Kulisse. Zu einer Form von Egoismus, die sich als Begeisterung tarnt.


Dies ist kein moralischer Anspruch und kein Aufruf zum Verzicht. Es ist eine Einladung, den eigenen Weg neu zu denken. Nicht weiter zu gehen – sondern bewusster.

Blick vom Kalvarienberg bei Alendorf ind die frostige "Toskana der Eifel".
Episches Licht über den toskanischen Hügeln? Oder doch ein Sonnenaufgang im amerikanischen Westen? Nein. Das ist das frostige Alendorf in der Eifel, 75 Minuten entfernt.

 

Fazit: Die Zukunft der Naturfotografie beginnt vor der Haustür


Die ethische Bilanz eines Fotos endet nicht am Rand des Bildes. Sie beginnt lange davor. Bei der Entscheidung, wie man dorthin gelangt. Bei der Frage, welche Spuren man hinterlässt, noch bevor der Auslöser gedrückt wird.


Naturfotografie wird oft über Motive diskutiert, über Orte, über Ergebnisse. Seltener über den Weg. Dabei ist es genau dieser Weg, der den größten Teil der Verantwortung trägt. Fernreisen für ein einzelnes Bild lassen sich immer schwerer rechtfertigen, wenn man genauer hinsieht. Nicht, weil Reisen grundsätzlich falsch wäre, sondern weil sie zu oft reflexhaft geworden ist. Weil Distanz mit Bedeutung verwechselt wird.


Je länger ich fotografiere, desto klarer wird mir: Die Zukunft der Naturfotografie liegt nicht in immer spektakuläreren Orten. Sie liegt in einer anderen Haltung. In einer Rückbesinnung auf Nähe, auf Aufmerksamkeit, auf Zeit. Sie ist weniger laut, weniger effizient, weniger auf Vergleich ausgelegt. Und gerade deshalb ehrlicher.


Ein Solitärbaum steht zerzaust in steppenartiger Landschaft nahe dem Ort Schuld, Ahrtal.
Einsamer Baum vor dramatischem Sonnenaufgang: Eine Szene aus der afrikanischen Savanne? Nein. Dieser Solitärbaum steht Nahe dem Ort Schuld im Ahrtal.

Das starke Bild entsteht selten dort, wo sich Menschen drängen. Es entsteht dort, wo jemand zu Fuß unterwegs ist. Wo Licht nicht erwartet, sondern beobachtet wird. Wo ein Moment niemanden verdrängen muss, um existieren zu dürfen.

Wenn Fotografie wieder Begegnung wird statt Beute, verändert sich ihr Wert. Nicht nur ästhetisch, sondern moralisch. Dann zeigt ein Bild nicht nur eine Landschaft, sondern auch den Respekt, mit dem sie betreten wurde.

Vielleicht beginnt verantwortungsvolle Naturfotografie genau hier: Nicht mit der Frage, wie weit man reisen kann –sondern wie tief man bereit ist, sich einzulassen.



Logo von Nature First

Als Mitglied von Nature First – Alliance for Responsible Nature Photography verbinde ich Kreativität bewusst mit Verantwortung.

Wenn wir die Landschaften, die wir fotografieren, wirklich lieben, zählt der Weg zu ihnen ebenso viel wie der Ausschnitt im Sucher.


© Lars-Henrik Roth – Wanderspezi – the Photohikers · www.photohikers.de

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